Beharrung und Wandel. Niederösterreich im 19. Jahrhundert. 39. Symposion des NÖ Instituts für Landeskunde

Beharrung und Wandel. Niederösterreich im 19. Jahrhundert. 39. Symposion des NÖ Instituts für Landeskunde

Organisatoren
Elisabeth Loinig, NÖ Institut für Landeskunde, St. Pölten; Oliver Kühschelm, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien; Peter Becker, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien
Ort
Wiener Neustadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2019 - 03.07.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Tobias Hämmerle, Institut für Geschichte, Universität Wien

Unter dem Titel „Beharrung und Wandel“ fand in Kooperation mit der Universität Wien das 39. Symposion des niederösterreichischen Instituts für Landeskunde statt. Ausgangspunkt war ein Buchprojekt des Instituts, das eine Gesellschaftsgeschichte Niederösterreichs, des zentralen Kronlands der Habsburgermonarchie, im langen 19. Jahrhundert, zum Gegenstand hat. 1 Auf der Tagung wurden Fragen nach der Modernisierung und der Durchstaatlichung des Sozialen, insbesondere auf dem „flachen Land“ diskutiert. Am zweiten und dritten Tag wurde der auf Niederösterreich fokussierte Horizont durch Beispiele aus anderen Regionen erweitert, wodurch sich transregional vergleichende Perspektiven eröffneten.

In ihrer Einleitung betonte ELISABETH LOINIG (St. Pölten), dass viele für die Gegenwart relevante Strukturen, z.B. in Verwaltung und Politik oder die Vereine als Instrument zivilgesellschaftlicher Mobilisierung, auf das 19. Jahrhundert zurückgehen, sich dieses somit tatsächlich als ein langes – im Sinn von: lang wirkendes – erwiesen hat. OLIVER KÜHSCHELM (Wien) entwarf die Perspektive einer Regionalgeschichte sozialer Macht als Auseinandersetzung mit Prozessen der Vergesellschaftlichung und Durchstaatlichung in lokalen und regionalen Konstellationen.

Den Auftakt der Konferenz machte MARTIN BAUER (St. Pölten), der die agrarwirtschaftliche Situation Niederösterreichs von 1790 bis 1914 untersuchte und die Unterschiedlichkeit der Entwicklungspfade im Rahmen des stark differenzierten Kronlands veranschaulichte. Wien und das Alpenvorland wiesen größere Erträge in der Agrarproduktion auf als die Ackerbaugebiete im Osten Niederösterreichs. Im zweiten Vortrag analysierte ANDREAS RESCH (Wien) den Wandel von Industrie und Gewerbe in Niederösterreich. Er fasste das 19. Jahrhundert nicht als Zeitalter der Verdrängung von Kleingewerbe durch großbetriebliche Industrie, sondern als eine Periode von Symbiose und Koexistenz dieser Formen auf. „Industrial enlightenment“ im Sinne von Joel Mokyr sei nicht auf Großbetriebe beschränkt geblieben. BERND KREUZER (München) widmete sich im letzten Beitrag des ersten Panels Verkehrs-, Mobilitäts- und Kommunikationsrevolutionen. Die gängige Auffassung, dass von Wien (Zentrum) ausgehend das Umland (Peripherie) durch Verkehrs- und Kommunikationsnetze rasch „erobert“ werden konnte, treffe nicht zu. Vielmehr sei die Wirkung der Infrastruktur abseits der „Korridore der Moderne und der Macht“ bald verpufft. In der regionalen Entwicklung ergab sich eine Kluft zwischen Ortschaften, die ans Transport-, Elektrizitäts-, Informations- und Kommunikationsnetz angeschlossen wurden, und solchen, die abseits der Korridore lagen.

Im zweiten Panel lag der Fokus auf den Machtverhältnissen in den unterschiedlichen sozialen Schichten. THOMAS HELLMUTH (Wien) diskutierte den Bildungsbereich als Seismograph gesellschaftlichen Wandels in der Spannung zwischen staatlicher Indoktrination und emanzipatorischen Perspektiven. Schulgesetze waren auch zentraler Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen bürgerlichem Liberalismus und politischem Katholizismus, der in Niederösterreich seit den 1890er-Jahren die Landespolitik dominierte. SABINE SCHMITNER (Wiener Neustadt) befasste sich, fokussiert auf die (kleinen) Städte des flachen Lands und insbesondere Wiener Neustadt, mit dem Anspruch des Bürgertums, die gesellschaftliche Mitte zu verkörpern. Mit dem Kampfbegriff des „Mittelstands“ artikulierte sich ein relativ privilegierter Teil der Bevölkerung, gerichtet gegen eine über die Kleinstadt hinausreichende soziale Elite ebenso wie gegen die Arbeiterklasse, der es – so JOHN EVERS (Wien) – in Niederösterreich relativ früh gelang, Gegenmacht in drei Dimensionen aufzubauen: strukturell durch Arbeitskämpfe und organisatorisch durch deren Koordination im Rahmen einer überregionalen Gewerkschaftsbewegung. Auch begann der Versuch, institutionell an den Staat anzuknüpfen; der erfolgreiche Wahlrechtskampf stärkte eine „integrative Strategie“.

Das letzte Panel des ersten Tages stand unter dem Titel „Räume“. ANNEMARIE STEIDL (Wien) thematisierte lokale und überregionale Migrationen. Sie unterstrich, dass die „spektakulären“ Wanderungen nach Übersee und in die Großstädte, damit auch das Bild rapider Urbanisierung, nach wie vor gängige Vorstellungen über Migrationsbewegungen im 19. Jahrhundert prägen. Hingegen seien bei der Untersuchung von räumlichen Mobilitäten kleinräumige und temporäre Wanderungen, etwa im Zug von Saisonarbeit oder als Vazieren, vernachlässigt worden. Es gilt die Topoi einer unidirektionalen Wanderung der Landbevölkerung in die städtischen Ballungszentren aufzubrechen. PETER EIGNER (Wien) widmete sich gemeinsam mit MAXIMILIAN MARTSCH (Wien) Niederösterreichs Kleinstädten. Das Spezifikum der Städteentwicklung im Kronland Niederösterreich war die Wechselwirkung mit der dominierenden Hauptstadt Wien, um 1900 eine der größten Städte der Welt. Neben der Ausstrahlung der Metropole aufs flache Land verdienen umgekehrt die dörflichen Strukturen Wiens Beachtung, die in Vororten und „Grätzln“ bis heute erhalten sind. Der Befund vom Dorf in der Stadt relativiert wiederum das überkommene Bild einer einseitigen Wirkungsrichtung, hier als Überwuchern des Landes durch die Stadt.

PIETER M. JUDSON (Florenz) befasste sich in seiner Keynote mit der Spannung zwischen Zentrum und Provinz in der Habsburgermonarchie. Er schlug vor, das Narrativ eines von oben die Gesellschaft durchdringenden Imperiums kritisch mit dem Instrument regionalgeschichtlicher Studien zu befragen, die näher an Akteure „von unten“ heranrücken. Er verwies auf das Bürgertum und die Vereine als Akteure, die den Staat, dessen Infrastrukturen und Institutionen, insbesondere im Bereich der Wohlfahrt und der Bildung, trugen. Staatsaufbau vollzog sich somit nicht nur von „oben“, in Form des Zentralstaates, sondern auch von „unten“. In seinem Kommentar warf PETER BECKER (Wien) die Frage auf, ob sich der Imperiumsbegriff auf die Monarchie anwenden lässt. Asymmetrien seien auch in anderen Formen von Staatlichkeit möglich.

Im Zeichen des Bemühens, den Habsburgerstaat begrifflich zu fassen und die Stellung Niederösterreichs in diesem Gebilde zu analysieren, stand auch das erste Panel des zweiten Tages. JANA OSTERKAMP (München) diskutierte, ausgehend von einer Allegorie des „Staatsschiffes“, die Sonderstellung Niederösterreichs als Kronland im föderativen habsburgischen „Empire“. STEPHAN SANDER-FAES (Zürich) wandte sich ebenfalls gegen das Bild einer top-down-Entwicklung von staatlicher Herrschaft zum Anstaltsstaat. Man müsse das Nebeneinander von modernen und vormodernen Ordnungssystemen und die in beide Richtungen verlaufenden Übersetzungsprozesse zwischen lokalen Akteuren und zentralisierenden Instanzen analysieren. ZSUZSANNA TÖRÖK (Wien) untersuchte Statistik bzw. Staatenkunde als räumlich orientiertes, modular aufgebautes, pluridisziplinär organisiertes und öffentlich zugängliches Verwaltungswissen. Auch sie rückte neben den zentralstaatlichen die regionalen Akteure ins Blickfeld. Bei der von den niederösterreichischen Ständen 1793 initiierten topographischen Sammlung handelte es sich um das bemerkenswerte Projekt eines modernen Wissensspeichers.

Das zweite Panel untersuchte die Rolle der Kirche im Rahmen von Zentralisierungsprozessen. RUPERT KLIEBER (Wien) befasste sich mit (katholischer) Kirchlichkeit in Niederösterreich und der Prägung ländlicher Lebenswelten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts durch Religion und Kirche. DONATUS DÜSTERHAUS (Fribourg) stellte dem das Beispiel der protestantischen Kirchenorganisation des Elsass gegenüber. Die Sonderstellung der protestantischen Kirche in einer durch Multikonfessionalität geprägten Region führte er auf die 1802 unter Napoleon eingeführten „Organischen Artikel“ zurück. Sie garantierten einerseits die Rechte der protestantischen Bevölkerung und ermöglichten es andererseits, die protestantische Bevölkerungsgruppe an den französischen Staat zu binden.

Das letzte Panel des zweiten Tages legte den Fokus auf das Verhältnis zwischen Adel und dem in die Fläche vorrückenden Staat. JOSEF LÖFFLER (Wien) diskutierte das Verhältnis von Grundherrschaft und Zentralstaat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Staat bemühte sich zwar um Einfluss, z.B. durch Einrichtung der Kreisämter als Kontrollinstanz, in der Verwaltungspraxis blieben aber bis 1848 die (adeligen) Grundherren weiterhin die maßgebenden Akteure. TATJANA TÖNSMEYER (Wuppertal) wandte sich gegen das Bild eines Niedergangs des Adels als Folge der Ablösung der Patrimonialherrschaft und wies auf neue Handlungsspielräume hin. Adelige Eliten nützten z.B. Gerichte erfolgreich als Plattform, um sich Wald- und Wassernutzungsrechte als Eigentumsrechte bestätigen zu lassen. Sie trugen damit zur Etablierung und Präsenz eines „performing state“ in lokalen und regionalen Konstellationen bei.

In der zweiten Keynote des Symposions entwickelte DIRK VAN LAAK (Leipzig) Potentiale einer Infrastrukturgeschichte. Infrastruktur sei „das Stabile, das notwendig ist, um das Fließende zu fixieren.“ Bei Infrastrukturen handle es sich um materiell geronnene Aushandlungsprozesse, an die sich Nutzung schließen muss.

Die Nutzungs- und Nutzerperspektive betonte am dritten Tag auch der Vortrag von CLEMENS TANGERDING (Berlin). Er thematisierte anhand von Würzburg an der Wende zum 19. Jahrhundert den „Drang zum Staat“, die Anrufung staatlicher Institutionen zur Stabilisierung der eigenen Lebenswelt. WALTRAUD SCHÜTZ (Wien) untersuchte wohltätiges Engagement anhand der „Gesellschaft der adeligen Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen“, die sich 1810 bei ihrer Gründung explizit als Stütze eines durch die napoleonischen Kriege geschwächten Staates antrug.

Mit den Handlungsspielräumen und Verhaltensmustern der Kommunen befasste sich ein weiteres Panel. NORBERT FRANZ (Trier) lenkte die Aufmerksamkeit auf die Macht des „letzten Rädchens“ im Prozess der Durchstaatlichung. Anhand französischer und luxemburgischer Kommunen zeigte er, wie Landgemeinden Mitgestalter, aber auch Verweigerer moderner Staatsverwaltung sein konnten. THOMAS BUCHNER (Amstetten) analysierte die kommunalen Finanzen als Dreh- und Angelpunkt im Prozess von Durchstaatlichung, die nur in Kooperation mit den Gemeinden gelingen konnte. Allerdings delegierte der cisleithanische Zentralstaat zwar Aufgaben an die Gemeinden, stattete sie aber nicht mit einer entsprechenden Finanzierung aus. Das 19. Jahrhundert beginne somit, wenn man Durchstaatlichung als ein Signum ansetzt, in Luxemburg und Frankreich früher als in Niederösterreich. Hier vollzog sich Durchstaatlichung nach 1848 in gedrängterer Zeit und führte in eine endemische Verschuldung der Kommunen. Allerdings war die Klage über (finanzielle) Überforderung wohl auch Teil der Rechtfertigungsstrategien von Gemeindevorständen.

Das letzte Panel der Tagung rückte neuerlich die Macht von „Intermediären“, von Mittlern zwischen der Zivilgesellschaft und dem Anstaltsstaat in den Mittelpunkt. PATRICK KURY (Basel) wandte sich Vereinen und Stiftungen im (groß)städtischen Rahmen Basels zu und analysierte sie als Sublimierung bürgerlicher Macht in sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Organisationen. PETER HINTERNDORFER (Wien) zeigte hingegen, wie das Vereinswesen am flachen Land in Niederösterreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen rasanten Aufschwung nahm und sich über bürgerliche Gruppen hinaus entwickelte.

Die internationale Zusammensetzung des Symposions ermöglichte es, regionalgeschichtliche Fragestellungen mit der Analyse von übergreifenden Entwicklungstendenzen zu verbinden und als Prozesse der Moderne zu diskutieren. Als Ertrag des Symposions ist insbesondere hervorzuheben, dass viele Beiträge die Vorstellung vom 19. Jahrhundert als Zeitalter einer radikalen Umwälzung der Gesellschaft relativierten, die sich von „oben“ nach „unten“ und vom Zentrum an die Peripherie bewegte. Der Zeitgeist des 19. Jahrhundert war zudem in wirtschaftlicher, konfessioneller und kultureller Sicht nicht nur durch Aufbrüche geprägt, sondern ebenso durch beharrende Kräfte.

Konferenzübersicht:

Elisabeth Loinig (St. Pölten) / Oliver Kühschelm (Wien): Begrüßung und Präsentation des Buchprojekts

Panel I: Wirtschaften

Martin Bauer (St. Pölten): Agrarrevolution in Raten. Die Agrarwirtschaft in Niederösterreich 1790 –1914
Andreas Resch (Wien): Industrie und Gewerbe - charakteristische Entwicklungen und Beziehungen
Bernd Kreuzer (München): Korridore der Moderne und der Macht: Verkehrs-, Mobilitäts- und Kommunikationsrevolutionen

Panel II: (Gegen)Macht

Thomas Hellmuth (Wien): Zwischen Freiheit und Herrschaft. Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft
Sabine Schmitner (Wiener Neustadt): Bürgertum – die (Ohn)Macht der Mitte?
John Evers (Wien): Gegenmacht!? Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegungen in Niederösterreich 1867–1914

Panel III: Räume

Annemarie Steidl (Wien): Viele Wege räumlicher Mobilität. Lokale und überregionale Migrationen in Niederösterreich
Peter Eigner (Wien) / Maximilian Martsch (Wien): Im Schatten der Metropole? Niederösterreichs Kleinstädte

Keynote

Pieter Judson (Florenz): Zur Spannung Zentrum–Provinz in der Habsburgermonarchie

Panel I: Imperiale Herrschaft und das Land

Jana Osterkamp (München): Gleicher als andere. Niederösterreich als Kronland im habsburgischen Imperium
Stephan Sander-Faes (Zürich): Staatsbildung als ‚Übersetzung‘ (1800–50). Das ländliche Niederösterreich und der österreichische Zentralstaat
Zsuzsanna Török (Wien): Stände und Statistik. Erzeugung und Verwendung von Staatswissen in Niederösterreich, ca. 1790–1848

Panel II: Regionale Macht über/von Kirchen

Rupert Klieber (Wien): Religion und Kirchlichkeit zwischen Enns und Leitha (1785-1918): Alltag. Anspruch. Aufbruch
Donatus Düsterhaus (Fribourg): Zentralstaatliche Regulierung und regionale Selbstverwaltung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Zur Wahrnehmung und Wirklichkeit der protestantischen Kirchenorganisation im Elsass

Panel III: Adel und Staat

Tatjana Tönsmeyer (Wuppertal): Staat, Adel und ländliche Gesellschaft. Zum Vorrücken des Staates in die Fläche am Beispiel von Böhmen und England
Josef Löffler (Wien): Das Verhältnis zwischen Grundherrschaft und Staat in der Habsburgermonarchie am Beispiel Niederösterreichs

Keynote

Dirk van Laak (Leipzig): Infrastrukturgeschichte: Neue Perspektiven auf Raum und Zeit?

Panel IV: Drang zum Staat?

Clemens Tangerding (Berlin): Der Drang zum Staat – Würzburg um 1800

Waltraud Schütz (Wien): Hilfe für Abgebrannte, ländliche Feste und patriotische Gaben. Wohltätiges Engagement von Frauen

Panel V: Kommunale Handlungsspielräume

Norbert Franz (Trier): Die Macht des „letzten Rädchens“ – Landgemeinden als Mitgestalter moderner Staatsverwaltungen im 19. Jahrhundert (Frankreich und Luxemburg)
Thomas Buchner (Amstetten): Kommunale Finanzen und Staatsbildung. Niederösterreich, ca. 1850–1914

Panel VI: Zivile Netzwerke

Patrick Kury (Basel): Aufbruch und Stillstand einer bürgerlichen Gesellschaft. Basel und die Ambivalenzen der Moderne
Peter Hinterndorfer (Wien): Wohltätigkeit, Selbsthilfe und organisierte Geselligkeit – Vereinswesen in Niederösterreich

Anmerkung:
1 Vgl. http://www.noe.gv.at/projekt19jh (19.11.2019)